Human Flight Park  
"Otto Lilienthal"


Otto Lilienthal 1890:

Der Flug der Vögel und des Menschen durch die Sonnenwärme

Wer ein offenes Auge für die Wunder der Schöpfung besitzt, wird häufig Gelegenheit gefunden haben, die schönste aller Bewegungen, welche lebende Wesen auszuführen im Stande sind, das kreisende Schweben der Vögel, zu beobachten. Dieser herrliche, anstrengungslose Flug der grösseren Vögel spornt uns immer wieder an, die Lösung der Flugfrage zu versuchen, obwohl vielfache Aeusserungen wissenschaftlicher Autoritäten über dieses Problem uns wenig Anlass geben, mit der Flugfrage uns eingehend zu beschäftigen. Jeder kreisende Vogel fesselt dennoch unsere Aufmerksamkeit in hohem Grade und lässt in uns den Trieb, gleich ihm das Luftmeer zu durcheilen, nicht versiegen. Beharrlich gemahnt uns der schwebende Vogel an das Vorhandensein gewisser kraftsparender, den Flug erleichternder Eigenschaften unserer Atmosphäre. Wie könnten wir sonst wohl begreifen, daß diese schweren Vogelkörper auf ihren ausgebreiteten Schwingen ruhend von der Luft getragen werden. Und nicht nur gleiten diese Vögel dahin, ohne an ihrer Schwebehöhe einzubüssen, nein sie schrauben sich sogar in wundervollen Spirallinien höher und höher, oft so hoch und weit, daß sie unseren staunenden Blicken entschwinden.

Wer Sinn und viel Gelegenheit für derartige Naturbeobachtungen hat, der wird auch keine Zweifel mehr hegen, daß hier keine Sinnestäuschungen vorliegen. sondern daß der Schwebeflug ein wirkliches Schweben ist, und daß die scheinbar ruhig gehaltenen ausgebreiteten Fittiche wirklich ohne eigentliche Kraftanstrengungen als Träger des Vogelleibes dienen.

Die Erscheinungen eines derartigen Fluges sind etwa folgende: Ein schöner Sommertag führte uns durch Wald und Flur, da sehen wir plötzlich nahe über uns an dem blauen Hintergrunde des Himmels zwei Raubvögel fliegen, welche nur dann und wann vereinzelte F1ügelschläge ausführen, während sie im Uebrigen die weit ausgebreiteten hellgrauen, mit dunkelfarbigen Bändern gezeichneten Flügel fast regungslos ausbreiten. Schön geschwungene Kreise beschreibend, ziehen sie langsam dahin und erheben sich, mit dem Winde abtreibend, bis zu bedeutender Höhe. Es ist ein Pärchen des gemeinen Mäusebussard, eines der häufigsten Raubvögel unserer Gegenden, den zu beobachten wir fast bei jedem sommerlichen Ausfluge Gelegenheit haben.

Noch schönere Fliegeerscheinungen bieten sich uns dar, wenn wir sumpfige Gegenden aufsuchen und die durch einander kreisenden Reiher, Kraniche und Störche bei ihrem Fluge betrachten können, namentlich um die Zeit des Abzuges. wo förmliche Fliegeübungen zur Schulung des jungen Nachwuchses von diesen Vögeln angestellt werden, um sich für die grosse Reise nach dem Süden vorzubereiten. Es sammeln sich dann namentlich die Störche eines grösseren Districtes und zieren den Himmel über uns mit den herrlichsten Flugbewegungen, indem sie scheinbar regellos durch einander ihre Kreise ziehen, in uns aber das Gefühl der vollkommensten Sicherheit hervorrufen, indem wir sehen, welche erhabene Ruhe und welche bewusste Verwerthung der Luftströmung in ihrem Fluge sich ausprägt.

Worüber wir beim Anschauen dieser schwungvollen Bewegungen am meisten in Erstaunen gerathen, das ist die Anstrengungslosigkeit derselben; denn die segelnden Vögel ersparen sich die Arbeitskraft erfordernden F1ügelschläge und machen der Beobachtung gemäss nur geringe Wendungen und Drehungen mit ihren Schwingen, um sie gleichsam für jeden Zug ihres Kreisens richtig einzustellen und beständig der gewünschten Bewegung anzupassen.

Es fragt sich nun, wie diese Kraftersparniss hervorgerufen werden kann gegenüber dem eine grössere mechanische Leistung beanspruchenden, durch starke F1ügelschläge begleiteten Ruderfluge.

In der Nähe der Erdoberfläche, wo der Wind stets unregelmässig und schwächer bläst, sowie bei Windstille bemerkt man den Schwebeflug der Vögel niemals; deshalb ist es schon lange kein Geheimnis mehr, daß der Schwebeflug von den Vögeln nur bei Wind von gewisser Stärke ausgeführt werden kann. In den Wirkungen des Windes mussen daher die Vögel den Ersatz für ihre F1ügelschläge finden, und während sonst die Fliegewirkung durch Muskelarbeit verbrauchende F1ügelschläge erzielt wird, muss ein geeigneter Wind ebenso im Stande sein, einen aufwärts- und vorwärtstreibenden Druck auf den frei schwebenden Vogel auszuüben.

Die Arbeitskraft, welche den unter den F1ügeln der segelnden Vögel erforderlichen hebenden und treibenden Luftwiderstand hervorruft, wird also vom Wind selbst geleistet, und die Erscheinung des Schwebefluges ist mithin auf jene Ursachen zurückzuführen, welche den Wind überhaupt entstehen lassen.

Wir wissen, daß die Sonnenwärme es ist, der die Ruhelosigkeit unserer Atmosphäre, das ewige Hin und Her und der Kreislauf der Windströmungen zugeschrieben werden muss. Die Stürme und Winde sind ununterbrochen in Thätigkeit, das Gleichgewicht in dem Luftocean unserer Erde wieder herzustellen. welches beständig durch die Wandelbarkeit der Sonnenwärme und deren verschiedenartige Wirkungen gelöst wird.

Diese Strömungen sind theils regelmässige, theils unregelmässige. Der regelmässige Druck- und Temperaturausgleich der Luft findet seinen Ausdruck am vollkommensten in den Passatwinden des wärmeren Erdgürtels. In den Zonen des veränderlichen Niederschlages hingegen wird durch die verschiedenartigsten Einflüsse eine gewisse Gesetzmässigkeit der Windverhältnisse fast unkenntlich gemacht.

Wenn nun auch vielerlei Umstände auf die Windbildung beeinflussend einwirken, immerhin ist (ausser den für uns wenig erkenntlichen unter dem Einflusse des Mondes stehenden Ebbe- und Flutherscheinungen unserer Atmosphäre) der wechselnde Sonnenschein, welcher unsere Erde in 24 Stunden einmal umläuft: als die eigentliche Quelle der Windbewegungen zu betrachten.

Diese wandelbare Wärmequelle leistet nun aber auch jene Arbeit, welche die Vögel sich nutzbar machen, indem sie auf dem Winde ruhend dahinsegeln. Diese Hebewirkung, welche wir an den mit regungslosen F1ügeln dahinschwebenden Vögeln erkennen, müssen wir als ein Product jener Arbeit betrachten, welche das Dahinwehen der Luft über die Erdoberfläche verursacht, und welches wiederum auf die erwärmenden Wirkungen der Sonnenstrahlen zurückzuführen ist.

Ein grosser Theil des unserer Atmosphäre von der Sonne eingepflanzten Arbeitsquantums wird nun von der Reibung der Luft in sich selbst und an der Erdoberfläche absorbirt; denn wo überhaupt Bewegung irdischer Körper stattfindet, da sind auch Bewegungswiderstände vorhanden, die an dieser Bewegung zehrend wirken und eine Verlangsamung der Bewegung hervorrufen. Diese Verlangsamung wird dort am grössten sein, wo die Widerstandswirkung am nächsten liegt. Der Wind wird daher an der Erdoberfläche nicht nur gewöhnlich am schwächsten wehen, sondern bei gleichbleibenden Ursachen für die Entstehung dieses Windes wird auch der Wind selbst durch die Reibung an der Erdoberfläche bei seinem Dahinwehen in den niederen Schichten sich verzögern müssen. Bei dieser Verlangsamung der Luftbewegung über der Erdoberfläche ist es aber sehr wohl denkbar, daß eine stete Abgabe von Luft aus den unteren Schichten an höher gelegene Schichten stattfindet; das heisst, es kann durch die Reibung des luftförmigen Mediums an der Erdoberfläche eine schwach steigende Windrichtung gebildet werden, deren Steigungswinkel gewissermassen dem Reibungswinkel der Luft entspricht.

 Der Wind weht immer dorthin, wo Anhäufungen der Atmosphäre nöthig sind, und es ergiebt sich aus dieser einfachen Vorstellung nicht blos die Möglichkeit. sondern auch die Nothwendigkeit schwach ansteigender Windbewegungen.

Wenn nun auf diese Weise eine Erhebung der Luft aus niederen Schichten in höhere gefolgert werden kann. so müssen wir nothgedrungen nach einer Erklärung für das Wiederherabkommen der Luft aus höheren Schichten in tiefer gelegene forschen. In dem Centrum der Entstehung des Windes müssen wir das Aequivalent suchen. welches der allmäligen Steigerung der Luft entspricht und in einer allgemeinen Luftsenkung sich äussert.

Wir haben uns einen Luftberg vorzustellen, der von Luftthälern umgeben ist, und in diese Thäler so lange hineinfliesst, bis durch die eingetretene Umformung der Witterung und Druckverhältnisse andere Gleichgewichtsbedingungen entstanden sind.

Vielfach wird hierbei die in starker Bewegung befindliche Luft durch ihre Trägheit über ihr Ziel hinausschiessen und mit rückläufiger Bewegung hin und her pendeln oder seitlich abgelenkt in grossen Wirbeln sich auslaufen.

So erzeugt die Wechselwirkung der Sonnenwärme durch Ausdehnung der Luft, durch Verdunstung und Niederschläge mit ihren vielseitigen Folgen einen Wellenschlag und eine Strömung auf dem Luftocean, welcher namentlich in unseren Breiten ein Chaos von Unregelmässigkeiten bei wechselnden Erhebungen und Senkungen der Atmosphäre und ein Schwanken des Barometerstandes mit schwer zu enträthselnder Gesetzmässigkeit hervorruft.

 In den für uns leicht erreichbaren Höhen werden wir aber das directe stärkere Sinken und Steigen der Luftmassen nicht wahrnehmen können, weil vertikale Luftbewegungen in der Nähe der Erdoberfläche sich stets in seitliche Bewegungen umsetzen müssen, indem hier nur ein Ausweichen nach der Seite stattfinden kann.

Dieses seitliche Ausweichen der Luft, welches wir Wind nennen, ist aber stets mit Reibungswirkungen verknüpft, und diese haben durch ihren verzögernden Einfluss wiederum zur Folge, daß dort, wo die Luft hinweht, Anhäufungen und Aufthürmungen stattfinden müssen, aus denen eine, wenn auch durchschnittlich nur schwach ansteigende Luftbewegung für gewisse Höhenlagen resultirt.

Der Versuch hat nun ergeben, daß man die aufsteigende Richtung des Windes wirklich messen kann. Es lässt sich mit Hülfe geeigneter Apparate derjenige Winkel angeben, unter dem sich die dahinwehende Luft über die durch Reibung an der Erdoberfläche sich verzögernde Luftmasse hinaufschiebt.

Diese Steigung ist aber keine gleichmässige. sondern sie wechselt immerwährend. aber ihr mittlerer Werth zeigt dafür eine um so grössere Beständigkeit. Durch obengenannte Apparate ist festgestellt, daß für Winde mittlerer Stärke über weit ausgedehnten, horizontalen Ebenen, wo keine Hindernisse die Luftbewegung störten, die mittlere Steigung des Windes zwischen 3E und 4E über der Horizontalen liegt.

Die Schwankungen des Windes nach der Höhenrichtung zeigen gewisse Perioden, und wenn man durch besondere Vorrichtungen diese Schwankungen in Form von Curven direct durch den Wind graphisch auftragen lässt, so zeigt sich am deutlichsten die hierbei stattfindende Gesetzmässigkeit. Der Mittelwert für die Elevation des Windes während einer Minute ist fast immer derselbe. Aber auch die Anzahl der Schwankungen für diesen Zeitraum weicht nicht viel von einander ab. Durchschnittlich ergeben sich pro Minute 20 Maxima und Minima, erkenntlich an den Bergen und Thälern des Curvenzuges.

Die Abbildungen 10-13 sind solche vom Wind selbst gezeichnete Diagramme. Die Vorrichtungen zur Gewinnung dieser Resultate sind beschrieben in dem Werke "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst", Berlin, Gärtner's Verlag.

Man sieht aus den Linienzügen, welche grösstenteils über der Horizontalen liegen, daß der Wind mehr eine steigende Richtung hat und nur seltener und weniger sich unter die Horizontale neigt. Die mittlere Windelevation wird erhalten, wenn man die mittlere Höhe der Curvenordinaten bestimmt oder ein Rechteck construirt, welches bei gleicher Länge denselben Inhalt hat, als die durch die Curve begrenzte Fläche. Die erhaltene mittlere Steigung des Windes während einer Minute stellt sich fast immer zwischen 3E und 4E ein. Dieselbe ist in den Abbildungen durch die punktierte Linie angedeutet.

Hieraus geht nun hervor, dass der Wind die F1ügel jedes fliegenden Vogels schräg von unten unter einem Winkel von durchschnittlich 3 1/2E trifft und es löst sich auf diese Weise eines der wunderbarsren Fliegeräthsel; denn mit Rücksicht auf die etwas gewölbte Form der Vogelflügel genügt schon diese schwache Steigung bei ausreichender Stärke des Windes, um den ausgebreitet schwebenden Vogel zu tragen.

Nicht alle Vögel aber verstehen es, den Wind so vollkommen auszunützen, daß sie der F1ügelschläge beim Fliegen entbehren können. Es scheint ein besonderer F1ügelbau dazu erforderlich zu sein. Jedoch haben diejenigen Vögel, welche sich vornehmlich des Segelfluges bedienen, nicht gerade verhältnismässig grosse Flügelflächen. Einer der ausdauerndsten Segler, der Albatros, besitzt sogar bei einer Schwere von 10-15 kg nur 1/2 qm Flugfläche und ist dadurch seine Flügelfläche verhältnissmässig kleiner, als bei irgend einem andern fliegenden Thiere.

Die grösste Genugthung aber liegt für uns in der Thatsache, daß mit der Grösse der Vögel auch deren Segelfähigkeit zunimmt, und daß gerade die grossen, schweren Raub- und Seevögel, sowie die meisten grossen Sumpfvögel, die im Marabustorch ein recht beträchtliches Gewicht erreichen, daß diese schweren Thiere am besten auf den eigentlichen Segelflug sich verstehen und uns Menschen. die wir doch noch schwerer sind, als diese genannten Segler, eine gewisse Anwartschaft verleihen, durch geschickte Flügelconstruction auch des anstrengungslosen Schwebefluges theilhaftig zu werden.

Gegenwärtig wird an diesem Problem von verschiedenen Seiten gearbeitet, und wer weiss, ob nicht hier oder da schon wirkliche greifbare Erfolge erzielt worden sind, so daß wir vielleicht unvermuthet eines Tages auch einen Menschen mit seinem Apparate über uns am Firmamente seine Kreise werden ziehen sehen.

Es wäre dies nur die nothwendige Folge von Bestrebungen, zu denen wir nicht blos berechtigt, sondern als Menschen sogar verpflichtet sind, und deren Richtigkeit der segelnde Vogel uns täglich beweist .

Fragen wir uns aber, wer diejenige Arbeit leistet, welche doch immerhin aufgewendet werden muss, wenn durch beständig unterhaltenen Luftwiderstand auch bei segelndem Fluge das Herabfallen aus der Luft verhindert werden soll, so kommen wir stets auf die Sonnenwärme zurück, welche als Ursache der Winde auch den schwebenden Vogel in der Luft trägt und Vielleicht auch einst die Triebkraft beim freien Schwebefluge des Menschen sein wird.


Erstmals erschienen in Prometheus, Wochenschrift über Fortschritte der angewandten Naturwissenschaften Nr.55 Oktober 1890. Diesen und weitere Beiträge finden Sie in

Otto Lilienthal: Über meine Flugversuche 1889-1896  herausgegeben von Klaus Kopfermann VDI-Verlag

Gesponsert von:

Zurück zur Indexseite