Zitate zum politischen Klima in
Deutschland |
Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog zum Staatsakt anläßlich
des 50jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland
am 24. Mai 1999 im Reichstagsgebäude zu Berlin
Meine Damen und Herren,
um den 50. Geburtstag unseres Staates zu feiern, sind wir im neugestalteten
Reichstagsgebäude versammelt, das wie kaum ein anderes Bauwerk die Geschichte der
deutschen Demokratie verkörpert. Hier fielen die Entscheidungen über den Ersten
Weltkrieg (soweit sie in Deutschland fielen). Hier wurde die erste Republik ausgerufen.
Und als 1933 der Reichstag abgebrannt war, spürte jeder, daß damit auch die deutsche
Demokratie zerstört war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Reichstag dann jahrzehntelang
Platzhalter für das erhoffte gemeinsame Parlament. Jetzt, nach der Wiedervereinigung und
dem Umzug des Bundestages, möge sich von hier aus fortsetzen, wofür dieser Ort steht:
Freiheit, Demokratie und Wohlstand für alle. Und wenn wir das schaffen, wird niemand mehr
von einer "Berliner Republik" sprechen, die grundlegend anders wäre als die der
ersten 50 Jahre.
Deutschland ist in den letzten 50 Jahren einen langen Weg gegangen: Am Ende des Zweiten
Weltkriegs lagen ja nicht nur die Städte in Ruinen. Unser Land war auch moralisch
zerstört und von der Welt geächtet. Aber das deutsche Volk, dem dieses Haus gewidmet
ist, hat aus der Erfahrung von Unfreiheit, Inhumanität und Diktatur gelernt. Unsere
Väter wollten es anders und besser machen, und das ist ihnen gelungen: Heute ist
Deutschland eine gefestigte freiheitliche Demokratie, ein wirtschaftlich starker Partner
der Welt und ein Land mit großem Wohlstand. Und vor allem: Zum erstenmal in seiner
Geschichte lebt es mit allen Nachbarländern in freundschaftlichen Beziehungen und fühlt
sich als Triebfeder eines friedlich zusammenwachsenden Europas.
Ich habe nie versucht, vorhandene Defizite schön zu reden. Aber wir dürfen wirklich für
uns in Anspruch nehmen, ein tolerantes, weltoffenes und erfolgreiches Land geworden zu
sein. Das sieht man auch von außen so; ich habe es immer wieder selbst erfahren können.
Auf vielen meiner Auslandsreisen wurde ich gefragt: Wie können wir an euren Erfahrungen
teilnehmen? Wie ist euch der schnelle Wiederaufbau nach 1945 gelungen? Wie habt ihr so
rasch ein stabiles und prosperierendes Land geschaffen? Wie habt ihr die Wiedervereinigung
bewältigt? Man soll gewiß auch das nicht überschätzen. Aber manchmal relativieren sich
die Probleme, die uns im Innern beschäftigen, eben doch, wenn man sie von außen
betrachtet.
Niemand konnte von alldem vor fünfzig Jahren, als die Bundesrepublik als Weststaat
gegründet wurde, auch nur träumen - und selbst vor zehn Jahren war es noch nicht
selbstverständlich, als die Bürger in der DDR anfingen, sich der sie beherrschenden
Diktatur entgegenzustellen. Aber wir haben die Wiedervereinigung dann nicht gegen die
Staatengemeinschaft erreicht, sondern mit ihrer Zustimmung und in Freundschaft mit ihr.
Das Grundgesetz, das gestern vor 50 Jahren in Kraft trat, und seine Grundideen - Freiheit,
Gerechtigkeit, Toleranz und
Friedlichkeit - hatte am Beginn dieses Prozesses gestanden und war sein entscheidender
Motor. Wir haben allen Grund, seinen Geburtstag festlich zu begehen.
Fünfzig Jahre Bundesrepublik Deutschland heißt aber auch: vierzig Jahre davon waren
geteilte Vergangenheit. Gewiß: Wir
haben in dieser Zeit nie aufgehört, eine Nation zu sein, und sind es selbstverständlich
auch heute. Aber wir sind eine Nation mit verschiedenen Erfahrungen und infolgedessen auch
mit verschiedenen Wahrnehmungen; denn wir haben uns in diesen vierzig Jahren, allen
Sonntagsreden zum Trotz, weiter auseinandergelebt, als wir in der ersten Euphorie der
wiedergewonnenen Einheit hofften. Das ist bitter, aber wir dürfen es nicht verdrängen
und auch nicht überspielen. Wir müssen uns damit immer wieder aufs neue
auseinandersetzen. Das gelingt aber nur, wenn die Bürger in Ost und West fair genug sind,
die Erinnerungen und Biographien aus der geteilten Vergangenheit verstehen zu wollen und
gegenseitig zu respektieren.
Ich habe dieses gemeinsame Gespräch mit Ost- und Westdeutschen immer wieder gesucht, und
ich rechne die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, zu den bewegendsten meiner
Amtszeit.
Die wichtigste Erfahrung aber war für mich immer, wie der Weg zum gegenseitigen
Verständnis erst durch rückhaltlose
Offenheit und Wahrhaftigkeit geöffnet wurde, auf beiden Seiten. Verschleiernde
Schlagworte, gleich ob sie gut oder böse
gemeint sind, bringen da gar nichts. Ich wollte, das hätten alle begriffen. Wiederum auf
beiden Seiten.
Zur heutigen Gestalt Deutschlands haben viele beigetragen. Ich will hier nur ganz weniges
nennen: den Willen Konrad
Adenauers, die alte Bundesrepublik fest in der westlichen Gemeinschaft zu verankern, die
Bereitschaft Kurt Schumachers,
diesen Weg aus der Opposition heraus konstruktiv zu begleiten, den Brückenschlag nach
Osten durch Willy Brandt und die Vollendung der staatlichen Einheit durch Helmut Kohl. Ich
erinnere an die Integration von Millionen Vertriebener, den Aufbau einer sozialen
Marktwirtschaft aus den Trümmern des Krieges. Ich erinnere an die historische Aussöhnung
mit Israel. Ich erinnere an die ungezählten Ostdeutschen, die sich unter einem immer
fragwürdiger werdenden System ihre Unabhängigkeit erhalten haben, und an die
Bürgerrechtler, deren Freiheitswille dieses System schließlich ins Wanken brachte.
Aber auch die Demokratisierung unserer Gesellschaft gehört zu den großen, das Gesicht
unseres Landes bestimmenden
Leistungen. Und dabei ging es nicht nur um das Wirken von Politikern. Das Selbstgefühl
unserer Gesellschaft ist auch mit vielen anderen Namen verknüpft; aus dem Journalismus
ebenso wie aus dem Geistesleben, der Kunst und der Publizistik. Eine Gesellschaft lebt
niemals nur aus Staat und Politik. Die großen Entwicklungen führt sie selbst, als
Ganzes, herbei. Wir haben auch das erlebt, in Ost und West und oft in heftigen
Auseinandersetzungen. Aber es hat uns gut getan.
Vor der Gründung der Bundesrepublik standen wie schon gesagt, bittere Erfahrungen:
Erfahrungen des Krieges, des
Holocaust, der Verachtung von Menschenwürde und Menschenfreiheit. Wir hatten in den
schlimmsten Abgrund unserer
Geschichte geblickt und diese Erlebnisse waren tief in das Denken der Gründergeneration
eingebrannt. Aber die Zeiten ändern sich. Immer weniger Menschen kennen die Zeit des
Krieges und gar die Zeit vor dem Krieg noch aus eigener Erfahrung, die Architekten des
Wiederaufbaus treten ab. Und der Generationswechsel läßt nicht nur die Zeitzeugen des
Holocaust allmählich verstummen. Es verblassen auch die Erfahrungen von Verfolgung und
Massenmord, von Kriegen und Vertreibungen, von durchlittenen Bombennächten, von Sprech-
und Denkverboten. Auch diese Erfahrungen haben das Denken einer ganzen Generation stärker
geprägt, als es die Fernsehbilder von heute je können werden. Also müssen sie so gut
wie möglich an die kommenden Generationen weitergegeben werden. Das ist unsere Pflicht
vor der Geschichte.
Ich weiß, wie schwer das ist: Mit den Generationen verändern sich Wahrnehmungen und
Erinnerungen. Schon die zehn Jahre seit dem Mauerfall sind im Leben eines heute
30jährigen eine unendlich lange Zeit, und erst recht haben die Jahrzehnte seit den
Anfängen der Bundesrepublik vieles im kollektiven Bewußtsein der Nation verändert: Aus
erlebter Vergangenheit beginnt Geschichte zu werden. Die Nachfolgegeneration hat längst
politische Verantwortung übernommen, und schon steht eine ganz junge Generation in den
Startlöchern, mit wieder ganz anderen Lebensentwürfen, einer anderen Diskussionskultur,
mit völlig neuen Fragen und anderen Antworten. Das ist der Natur des Menschen gemäß,
und niemand von uns Älteren sollte sich darüber entrüsten. Aber das müssen wir
einfordern: daß unsere Erfahrungen, und nicht zuletzt die aus Irrtümern und Fehlern
gewonnenen Erfahrungen, von den nach uns Kommenden zur Kenntnis genommen werden. Sie
können sich damit unter Umständen vieles ersparen. Und das ist eine Aufgabe, von der
niemand Dispens hat: weder Eltern noch Lehrer, weder Schulbuchautoren noch Journalisten,
weder Politiker noch Kirchen. Nur so entsteht kollektive Erinnerung und ohne die gibt es
weder nationale Identität noch nationale Verantwortung.
Heute, wenige Monate vor dem Beginn eines neuen Jahrhunderts, geht es vor allem anderen
darum, den Gedanken der Freiheit zu bewahren und das Wissen um ihren Wert weiterzugeben.
Freiheit und Demokratie sind nie selbstverständlich. Gerade wer nie selbst die Erfahrung
der Unfreiheit gemacht hat, übersieht das leicht; denn mit der Freiheit ist es wie mit
der Luft zum Atmen: Man wird sich ihrer erst bewußt, wenn sie einem genommen wird.
Nie war die individuelle Freiheit größer als heute, und die Pluralität der Lebensformen
hat uns überdies eine ungemein
vielgestaltige Gesellschaft geschaffen. Das ist gut so und liegt ganz in der Konsequenz
des Menschenbildes, von dem das
Grundgesetz ausgeht. Wenn es uns nun noch gelingt, in dieser Vielfalt auch die
Gemeinsamkeiten zu erkennen, die uns nicht
weniger bestimmen, und auch diese Gemeinsamkeiten zu stärken, dann - und nur dann - wird
das tolerante Nebeneinander zu einem Miteinander, aus dem wir auch die Zukunft bestehen
können.
Unser Staat ist zuallererst ein freiheitlicher Rechtsstaat, der die Rechte und Würde
seiner Bürger gewährt und sichert. Als die Mitglieder des Parlamentarischen Rates den
Artikel 1 des Grundgesetzes formulierten ("Die Würde des Menschen ist
unantastbar"), hatten sie keine unverbindliche Feiertags-Losung im Sinn. Sie wollten
zunächst die radikale Absage an jeden
Totalitarismus und an jede Staatsüberhöhung. Sie wollten einen dienenden Staat, der für
die Menschen da ist - und nicht die Menschen für ihn.
Dahinter steht freilich auch eine Erwartung an den Einzelnen: die Erwartung, daß er seine
Freiheit zur Gestaltung nutzt - für das eigene Schicksal und für die Gemeinschaft.
Das ist eine unverzichtbare Bedingung der Freiheit, denn es gibt keine nur individuelle
Freiheit. Frei können wir nur gemeinsam sein. Freiheit funktioniert nicht, wenn der
Einzelne immer nur Rechte für sich in Anspruch nimmt und immer mehr Verantwortung den
anderen aufbürdet ob nun dem "Staat" oder einer anonymen
"Gesellschaft". Ohne den Einsatz des Einzelnen für die Gemeinschaft ist auf die
Dauer jedes Gemeinwesen überfordert.
Und Freiheit ist mehr als nur inhaltsleere Abwesenheit von Zwang. Wir haben uns immer
wieder zu fragen, wozu wir sie nutzen, welchen Inhalt und Sinn wir ihr geben wollen. Sie
braucht Verstand und Phantasie.
Und: Freiheit braucht auch das Wissen um Tradition, um Werte und Ideale. Sie sind die
wichtigste Voraussetzung für eine
fundierte Kritik an der jeweils gegenwärtigen Wirklichkeit und für ein Denken in
Alternativen.
Der richtige verantwortungsvolle Umgang mit der Freiheit kommt nicht von selbst. Auch hier
liegt ein zentraler Erziehungs- und Vermittlungsauftrag für alle: für die Elternhäuser,
die Schulen, die Institutionen - und auch für die Medien.
Mit Reden und Dozieren ist es dabei nicht getan. Auch die Demokratie muß, wenn ihr Wert
vermittelt werden soll, spürbar
sein, ja wieder stärker spürbar werden. Ich kann mir durchaus mehr direkten Einfluß der
Bürger vorstellen, etwa das
Kumulieren und Panaschieren der Wählerstimmen auch bei Bundes- und Landtagswahlen, die
Ausweitung der Direktwahl von Bürgermeistern, die Verstärkung von Bürgerbegehren und
Bürgerentscheiden, zumindest auf kommunaler Ebene. Gerade auf der Ebene der
Nachbarschaften ist der Bürger ja in besonderem Maße zur Übernahme von Verantwortung
bereit. Dort können sogar "Frühwarnsysteme" für gesellschaftliche
Entwicklungen entstehen, die ein nur auf die Stimmen von Verbänden hörender Staat leicht
übersieht.
Der Staat muß sich dem Bürger als "Beteiligungsstaat" präsentieren. Dann hat
er es auch nicht mehr nötig, sich durch die - am Ende doch nicht haltbaren - Versprechen
eines perfekten "Versorgungsstaates" Zustimmung zu erkaufen. Warum setzen wir
uns nicht einmal hin und versuchen gemeinsam, Modelle und Lösungen zu entwerfen, die
sowohl den Bedürfnissen des Staates als auch denen der Bürger und der kleineren
Einheiten gerecht werden? Und das - ein einziges Mal - ohne die Totschlagargumente beider
Seiten, die wir so satt haben?
Und ganz abgesehen davon: Es gibt auch Bereiche, in denen wir überhaupt keine kollektive
Ausgestaltung brauchen, wo der menschliche Geist ganz allein auf sich gestellt ist und
doch dem Ganzen dient.
Kreativität, künstlerische Arbeit und Kultur gehören zu den wesentlichsten Elementen
einer lebendigen Gesellschaft. In
Wissenschaft, Kunst und Kreativität erprobt die Freiheit sich selbst, und hier entdeckt
sie neue Möglichkeiten des Sehens und des Selbstverständnisses von Individuum und
Gemeinschaft.
Zur Freiheit gehört es schließlich, die Folgen des eigenen Handelns auch selbst zu
verantworten. Verantwortung ist die
unausweichliche Konsequenz der Freiheit. Das scheint heute nicht immer ganz klar zu sein.
Immer mehr neigen wir dazu, die unangenehmen Folgen unseres Tuns zu sozialisieren, über
die nützlichen aber privat zu verfügen. Das muß ein Ende haben. Wenn alle glauben, daß
"der Ehrliche immer der Dumme" sei, braucht sich niemand über die Folgen zu
wundern.
Wir sollten es überhaupt wieder mehr zur Kenntnis nehmen: Die Zustimmung der Bürger zu
unserem freiheitlichen
Gesellschaftssystem ist keine Selbstverständlichkeit, gerade nicht in einer Zeit, in der
dieses aufhört, immer neue Wohltaten zu produzieren. Die Zustimmung zu Freiheit und
Demokratie hängt auch mit dem Grundgefühl der Bürger zusammen, ob es ihnen "gut
geht" und ob sie "gerecht" behandelt werden, und dieses ist wiederum eng
mit dem Vertrauen verknüpft, das man den politischen Institutionen entgegenbringt.
Vertrauen in das demokratische System setzt zunächst einmal voraus, daß die Bürger
wissen, wie Entscheidungen zustande
kommen, wer sie verantwortet und wie sie durchgesetzt werden. Dazu gehört, daß die
Medien ihnen bei jeder Nachricht sagen, um welches Stadium eines Verfahrens es gerade
geht: um Referentenentwurf, Kabinettsbeschluß, 1., 2. oder 3. Lesung; sonst muß ja der
Eindruck des ständigen Hin und Her entstehen. Nötig ist aber auch eine klare Sprache,
die Gegensätze nicht verschleiert, sondern echte Handlungsalternativen aufzeigt. Wer
politische Gegensätze durch Kungelei im Hinterzimmer lösen will, schadet dem Vertrauen
in unsere Demokratie. Und: In der politischen Auseinandersetzung soll man klar für seinen
Standpunkt streiten, sich dann aber auch damit abfinden, wenn man im offenen, fairen
Streit unterlegen ist.
Noch nie war der Prozeß politischer Entscheidungsfindung so kompliziert wie heute. Und
der Ruf: "Wer blickt hier noch
durch?" ist mittlerweile nicht mehr nur ein Stoßseufzer der Bürger, sondern auch
vieler Kommunal- und Landesverwaltungen geworden. Der Grund dafür ist leicht zu erkennen:
Wir haben uns angewöhnt, in dem komplizierten Dickicht von Interessen und Besitzständen
Veränderungen nur noch in kleinen Schritten anzugehen. Das bedeutet aber eine
Gesetzesänderung nach der anderen. Die Folge sind Unüberschaubarkeit der Gesetze und
Zweifel an ihrem Bestand. Also das Gegenteil von dem, was Vertrauen schafft!
Warum muß das eigentlich so sein?
Wichtig ist aber vor allem, daß die Bürger Vertrauen in die Kompetenz und die politische
Führungsfähigkeit der Amtsträger haben. Gerade in Zeiten der Unsicherheit und des
Reformbedarfs ist es besonders wichtig, daß auch langfristige Absichten bestehen und
immer wieder erkennbar werden.
Politik, so hat Max Weber gesagt, ist das Bohren dicker Bretter. Gewiß stehen dem oft die
Gesetze der Mediengesellschaft entgegen, in der Schnelligkeit die oberste Tugend und
alles, was sich nicht in zwei Minuten abhandeln läßt, "unverkäuflich" ist.
Wir sollten unsere Mitbürger da aber nicht unterschätzen. Als jemand, der keinen
Wahlkampf zu führen hat und nicht der vermeintlichen öffentlichen Meinung
hinterherlaufen muß, habe ich mehrfach versucht, Themen in die öffentliche Debatte zu
bringen, die erst auf lange Sicht bedeutsam sind: die Reform unseres Bildungssystems, die
Erneuerung der demokratischen Institutionen, den Dialog zwischen den Kulturen der Welt.
Meine Erfahrung dabei war stets: die Bürger haben sehr wohl verstanden, daß auch die
Beschäftigung mit solchen Themen notwendig ist, die nicht mit zwei fernsehgerechten
Sätzen zu vermitteln sind. Ich bin überzeugt: Wer Führung zeigt, wird auch vom Bürger
unterstützt werden. Denn der Bürger weiß dann, in welche größeren Zusammenhänge die
einzelne Maßnahme - und auch der Streit über sie - einzuordnen ist. Das gibt ihm
Sicherheit, und daraus wieder entsteht Vertrauen.
Demokratie und Freiheit stehen heute vor zwei großen Herausforderungen: Wie können wir
in einer sich globalisierenden
Wirtschaft auch künftig Wohlstand schaffen, und wie wahren wir dabei das Ziel der
Gerechtigkeit, soweit sie sich unter
Menschen überhaupt herstellen läßt?
Demokratie und Grundgesetz haben sich in Deutschland nicht zuletzt deshalb Anerkennung
erworben, weil mit ihnen Wohlstand kam. Die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik war
deshalb auch eine Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft.
Was aber ist, wenn es einmal keine Zuwächse zu verteilen gibt, oder sehr viel kleinere
als früher? Beginnt dann auch die
Zustimmung zur freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu wanken? Erscheint am Ende das Ziel
der Gleichheit verlockender als das Versprechen der Freiheit?
Die Überlegenheit der sozialen Marktwirtschaft über jede Form der Kommandowirtschaft war
eine der prägenden Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte. Das darf uns aber nicht zu dem
Mißverständnis verleiten, soziale Marktwirtschaft wäre etwas Statisches. Ihre
Spielregeln müssen sich immer wieder an die Entwicklung von Technik, Wirtschaft und
Gesellschaft anpassen. Soziale Marktwirtschaft heißt auch nicht zügelloser Wettkampf
aller gegen alle nach dem Recht des Stärkeren. Sie verlangt ein Regelwerk, das ein
Gleichgewicht der Kräfte organisiert, den Wettbewerb vor dominierenden Monopolen schützt
und der Sozialbindung des Eigentums Rechnung trägt.
Wir können den technologischen Wandel und die damit verbundene Globalisierung nicht
einfach abwählen. Wir können aber versuchen, im Inland die Risiken für den Einzelnen zu
minimieren und nach außen die Grundprinzipien der sozialen
Marktwirtschaft zu globalisieren. Gerade weil wir davon überzeugt sind, daß nur die
soziale Marktwirtschaft Wohlstand für alle und damit gesellschaftlichen Frieden sichern
kann, sollten wir für ihre grundlegenden Prinzipien auch in anderen
Zusammenhängen kämpfen: auf der europäischen Ebene und bei den Entscheidungen über die
künftige globale Ordnung.
Auch hier gibt es eine politische Führungsaufgabe: Wir Politiker müssen die Menschen auf
die globale soziale Marktwirtschaft vorbereiten. Nicht indem wir ihnen mit Horrormärchen
Angst machen, wie zum Beispiel damit, daß ein deutscher Industriearbeiter künftig zu den
Löhnen der Dritten Welt arbeiten muß. Wohl aber, indem wir ihnen in aller Offenheit
sagen: Wir müssen wieder besser sein als die anderen, wenn wir unseren Wohlstand und vor
allem unser soziales Netz halbwegs behalten wollen.
Dafür werden wir mehr Veränderungsbereitschaft brauchen, als ich gegenwärtig sehe. Und
Veränderung heißt für mich nicht Aufbruch ins Nirgendwo oder planloser Aktionismus. Im
Gegenteil: In Zeiten des Wandels ist es oft besser und wirksamer, sich zurückzubesinnen
auf die wahren Grundlagen unserer Ordnung.
Blicken wir zum Beispiel auf unser Sozialsystem, wo dringender Bedarf für Erneuerung
besteht. Ich weiß, daß Sozialpolitik
nicht allein Politik für Bedürftige ist; es ist ja gerade ein großer Vorteil der
Sozialversicherung, daß sie wichtige Leistungen an der vorherigen Beitragszahlung
bemißt. Dennoch gehört es zum Kern unseres Sozialstaates auch, daß die Gemeinschaft
denen hilft, die sich nicht aus eigener Kraft, auch nicht auf Grund eigener
Sozialversicherung helfen können. Unser System sozialer Hilfe muß also auch in Zukunft
so gestaltet sein, daß es ausreichende Unterstützung dort leisten kann, wo sie wirklich
nötig ist. Unsere Sozialsysteme werden aber geschwächt, wenn der Staat beginnt, sich die
politische Zustimmung seiner Bürger dadurch zu erkaufen, daß er mit einem Geflecht
direkter und indirekter Subventionen praktisch jeden zum Empfänger irgendeines
Sozialtransfers macht.
Oder schauen wir auf das Steuerrecht. Wenn es die Bürger auf der einen Seite hoch
belastet und auf der anderen Seite
unzählige Möglichkeiten zur Erlangung von Vorteilen und staatlichen Zuschüssen
eröffnet, dann erzeugt das beinahe
zwangsläufig eine "Absahner-Mentalität", bei der am Ende jeder nur noch von
der Angst getrieben wird, vielleicht doch nicht alle Möglichkeiten zur Steuerminderung
genutzt zu haben.
Wer heute in diesen Bereichen nach Reformen ruft, setzt sich allerdings leicht
Mißverständnissen aus. Da ist zunächst die
reflexhafte Reaktion, es gehe bei Reformen immer nur um Abbau, also darum, in einer
Gesellschaft, in der die Reichen ohnehin immer reicher würden, auch noch den Armen etwas
wegzunehmen. Darum kann, darum darf es nicht gehen. Gerade eine Gesellschaft der Freiheit
muß sozial sein.
Wo aber Dutzende von Fördersystemen nebeneinander und unkoordiniert eben nicht nur die
Ärmsten, sondern mittlerweile die breite Masse zu Empfängern von Transferleistungen
machen, da stimmt etwas nicht. Niemand weiß dann mehr, welche Hand in welche Tasche
greift. Es ist ein böses Symptom, daß es mittlerweile Beratungsagenturen gibt, die sich
im Förderdschungel auskennen und ihren "Kunden" gegen Gebühr helfen, die
beanspruchten Sozialleistungen zu maximieren. Der Schwächere, der seine Freiheit selbst
nicht nutzen kann oder an ihrer Ausübung behindert wird, ist auf die anderen angewiesen.
Unser Ziel muß es aber immer bleiben, die Menschen so zu stärken, daß möglichst viele
nicht auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind.
Wenn man in diesen Tagen über die Lage unseres Landes redet, fällt es schwer, nicht den
Kosovo und damit die Außenpolitik zum zentralen Thema zu machen. Ich gehe deswegen
bewußt erst zum Schluß darauf ein.
Wir sollten über aller Tagesaktualität nicht vergessen, daß die letzten 10 Jahre der
deutschen Außenpolitik insgesamt eine
tiefgreifende Wende gebracht haben. Es ist uns gelungen, die deutsche Einheit mit dem
Einverständnis unserer Nachbarn
zustande zu bringen. Es ist uns gelungen, das tief verwurzelte Mißtrauen gegenüber
diesem großen Land in der Mitte Europas zu überwinden. Wir haben Fortschritte beim
Aufbau der Europäischen Union geschafft, die zuvor unvorstellbar schienen.
Die Veränderungen der letzten 10 Jahre sind aber noch tiefer gegangen: Der Einsatz für
die Menschenrechte ist zu einem
zentralen Leitmotiv der deutschen Außenpolitik geworden. "Die Würde des Menschen
ist unantastbar" - dieser zentrale Satz des Grundgesetzes muß auch jenseits unserer
Landesgrenzen gelten, und eine auf lange Sicht angelegte Außenpolitik muß die Idee der
Freiheit zur zentralen Botschaft Europas für die Welt machen. Denn die Freiheit ist die
Grundlage, auf der allein Frieden, Achtung der Menschenrechte und Bereitschaft zu
weltweiter Solidarität wachsen können. Unser Ziel muß es also sein, die Freiheit zu
einem Weltbürgerrecht zu machen. Die Verbreitung von Demokratie, der weltweite Schutz der
Menschenrechte, der Aufbau eines offenen und sozialen globalen Wirtschaftssystems als
globale Friedensstrategie - all das sind die langfristigen Ziele, die über der
Tagesaktualität nicht übersehen werden dürfen.
Im Kosovo hat sich gezeigt, wie relevant die Fragen nach unserer Werteordnung in
Wirklichkeit sind. Uns Deutschen wird
dabei ein neuer Blick auf die Realitäten abverlangt. Man weiß mittlerweile: Es reicht
nicht, Menschenrechte nur zu fordern. Sie müssen auch tatsächlich verwirklicht werden.
Und im Extremfall müssen sie auch durchgesetzt werden.
Das hat uns im Einzelfall schwere Abwägungen und Entscheidungen abverlangt. Verstummt
sind die Debatten, daß Deutschland wegen seiner Vergangenheit militärisch auch nicht zum
Schutz der Menschenrechte und Menschenwürde beitragen dürfe, und verstummt ist auch das
ziemlich kurzsichtige Argument, wir dürften in Europa nicht handeln, weil uns die Kräfte
fehlen, überall auf der Welt das Gleiche zu tun. Der Einsatz militärischer Gewalt darf
heute und in Zukunft immer nur ultima ratio sein. Er bedarf sorgfältigster Abwägung,
auch hinsichtlich der angewandten Mittel, und das oberste politische Ziel, der Frieden und
die Wahrung der Menschenrechte, darf nicht einmal für einen Moment aus den Augen gelassen
werden. Aber die Erfahrung der Unfreiheit verpflichtet uns in besonderem Maße, für die
Freiheit einzustehen. Wir geben damit nur zurück, was uns selbst gegeben wurde.
Unabhängig von dem allen gilt aber: Die Deutschen sind in diesen Tagen mit ihren Gedanken
und Herzen bei den Opfern des Krieges und den Flüchtlingen. Besonders sind sie aber bei
unseren Soldaten, die auch in diesen Minuten Leben und Gesundheit für Frieden und
Menschenrechte einsetzen, und bei ihren Familien, die in Angst um sie leben.
Meine Damen und Herren,
gestatten Sie mir ein persönliches Wort zum Schluß. In den fünf Jahren meiner nun zu
Ende gehenden Amtszeit habe ich unser Land so in seiner ganzen Vielfalt gesehen, wie es
anderen vielleicht nicht vergönnt ist. Ich habe dabei ein sehr lebendiges Land gesehen,
ein Land, in dem sich viele, gerade auch junge Leute, für das Gemeinwesen einsetzen
ob in kleinen oder großen Gruppen, ob für aktuelle oder für langfristige Ziele,
ob für die Umwelt oder die Nachbarschaft. Hier ist unendlich viel in Bewegung. Natürlich
gibt es auch Gleichgültigkeit, Ellenbogenverhalten und Egoismus. Aber es gibt eben auch
den Idealismus der Engagierten, die teils spontane teils langfristige Hilfsbereitschaft,
das verbindliche Sich-in Anspruch-Nehmen-lassen für andere.
Ich habe auch viel Aufbruch gesehen: Junge Unternehmer mit Mut zur Selbständigkeit,
Spitzenforscher und begeisterte
Wissenschaftler. Ich habe viele getroffen, die mit neuen Ideen Städte und Regionen
lebenswerter machen. Ich habe junge
Männer und Frauen kennengelernt, die ohne viel Geld, aber mit viel Wissen die
Möglichkeiten des Internet nutzen, die neue Unternehmen gründen und dadurch
Arbeitsplätze schaffen. Ich habe mit vielen jungen Menschen gesprochen, deren waches
Bewußtsein und pragmatischer Tatendrang mich begeistert haben.
Aufbruch ist mir vor allem auch bei meinen Begegnungen mit den Menschen in unseren
östlichen Bundesländern begegnet.
Nach dem Schock über den Zusammenbruch vieler für unverrückbar gehaltener Strukturen
gibt es gerade dort auch einen
neuen Geist, der die Chancen der Freiheit und der Selbstbestimmung entschlossen nutzen
will.
Es hat mir auch Mut gemacht zu sehen, wie viele Bemühungen um das Zusammenleben zwischen
Deutschen und Ausländern es gibt. Der Dialog zwischen den Kulturen hat nach innen
wie nach außen begonnen und die großen Probleme, die auf diesem Feld liegen,
werden angepackt. Was hier geschieht, wird die Zukunft unserer Gesellschaft ganz
entscheidend bestimmen.
Auch die Bildungspolitik, die mir in meiner Amtszeit besonders am Herzen lag, ist in
Bewegung geraten. Endlich sind wir nicht mehr bereit, uns international mit einem Platz im
Mittelfeld abzufinden. Endlich haben wir begriffen, daß wir auch auf diesem für
unsere Zukunft wichtigsten Feld mehr Freiheit und Eigenverantwortung brauchen.
Wir können mit Zuversicht ins 21. Jahrhundert gehen. Dieses Jahrhundert wird einer
Generation gehören, die tüchtig, weltoffen und tolerant ist. Einer Generation, die ihre
Vergangenheit annimmt und gerade deshalb selbstbewußt in die Zukunft geht. Einer
Generation, die das wichtigste Erbe antritt, das wir ihr vermachen können: Freiheit,
Gerechtigkeit und Demokratie.
- Es gilt das gesprochene Wort. -
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